Europäische Union – Quo Vadis?
Prof. Dr. rer. pol. W. Edelfried Schneider10.07.2024
Europäische Union – Quo Vadis?
Gefühlt befindet sich ganz Europa seit mehreren Monaten im Wahlmodus. Angefangen in Polen mit einem Wechsel der Regierungspartei bis hin zu den kürzlichen EU-Parlamentswahlen sowie den Wahlgängen in Großbritannien und Frankreich.
Die Wahlen in Großbritannien haben einen Erdrutschsieg für die Labour Opposition gebracht. Die Brexit-Befürworter und die Tories sind abgewählt; ein durchgreifendes Programm für das mittlerweile notleidende Land hat aber auch die Labour Party nicht vorgelegt.
Die Parlamentswahlen in Frankreich, mit dem sehr überraschenden Ausgang im zweiten Wahlgang vom 07. Juli, haben alle überzeugten Europäer den Atem anhalten lassen. Nach dem ersten Durchgang war Frankreich angezählt und die Machtübernahme der rechtsnationalen Pen-Partei RN stand kurz bevor. Die Welt am Sonntag titelte am 23.06.2024: „Rote Karte für Frankreich! Rechte und linke Populisten werben mit teuren auf Pump finanzierten Vorhaben um Frankreichs Wähler, obwohl Brüssel wegen der desolaten Staatsfinanzen bereits ein Verfahren eingeleitet hat.“
Die FAS schrieb am 07. Juli 2024: „Französische Revolution – das ist der Anfang vom Ende Emmanuel Macrons“. Fakt ist, dass die ersten, positiven Äußerungen zur Abwehr der Machtübernahme durch die Rechtsradikalen der Ernüchterung gewichen sind. Eine baldige stabile Regierungsbildung scheint in Frankreich kurzfristig nicht möglich, weil die Gegensätze zwischen dem Macron-Lager und der neugebildeten Linken Volksfront insgesamt zu groß sind. Frankreich ist es nicht gewohnt, mit Koalitionen zu regieren; eine solche ist allerdings für Stabilität notwendig.
Wenn auch nach den EU-Parlamentswahlen sehr rasch die Spitzen der Kommission bestimmt wurden und mit Frau Kaja Kallas aus Estland und Herrn Costa aus Portugal ein Neuanfang unter der bisherigen Kommissionspräsidentin von der Leyen dargestellt wurde, so muss man doch fragen, ob die EU und die gesamte Welt insgesamt in den nächsten 6 bis 10 Monaten in einen politischen Stillstand geraten.
Die Probleme in Europa sind mit dem Rechtsruck im Europäischen Parlament und dem Vakuum in Frankreich einfach zu groß; die deutsche Regierung ist wegen ihrer eigenen zerstrittenen Verfassung sowohl im Inland als auch im Ausland zu schwach, um etwas zu bewegen.
In den USA tobt ein Machtkampf zwischen zwei alten, störrischen Männern, die beide eher nicht zur Präsidentschaft taugen.
Über diesen Problemen schwebt nach wie vor der Ukrainekrieg; ein Nachgeben von Putin ist entgegen anderer Meldungen kaum zu erkennen. Auch der Israel-Gaza-Krieg scheint trotz entsprechendem internationalen Druck auf Israel kein Ende zu finden.
Dieser sehr schwierigen politischen Lage steht die Notwendigkeit gegenüber, dass „die EU wettbewerbsfähiger werden muss“ (FAZ Business Media GmbH vom 19.06.2024) und die Mitgliedsstaaten ihre Finanzen sanieren müssen – gegen 7 namhafte EU-Länder sind Defizitverfahren eingeleitet (Die Welt vom 20.06.2024, S. 9).
Die in den letzten beiden Jahren galoppierende Inflation, der mangelnde Ausbau der Kapitalmarktunion sowie die schwierige Positionierung der Europäischen Investitionsbank lassen im Augenblick nicht erkennen, wie die EU sich wirtschaftsfördernd einbringen kann. Die viel zu langen Diskussionen um die finanziellen Ukrainehilfen haben im Frühjahr zur deutlichen Verschlechterung der Lage geführt. Wenn die USA unter Präsident Trump die Ukraineunterstützung aufgeben sollte, wird die Gesamtlage in absehbarer Zeit für Europa sehr, sehr schwierig werden.
Trotz der politischen Lage stehen der Gesetzesapparat und die Bürokratie in Brüssel nicht still. Die umfangreichen Umweltberichtspflichten (CSRD), die ab 2024 größeren Unternehmen auferlegt werden, kommen in einer kurzen Taktzahl, die von den Unternehmen kaum zu bewältigen ist. Die Bürokratie scheint mit den sog. „Delegierten Verordnungen“ nicht mehr unter der Kontrolle der Mitgliedsstaaten zu stehen. Dies wird zu weiterem Verdruss in der gesamten Gesellschaft führen.
Von erheblicher Bedeutung für die gemeinsame Zukunft ist die zunehmende Ablehnung der grünen Umweltpolitik in ganz Europa. Die EU-Kommission scheint allerdings unbeirrt an ihrem Green Deal festzuhalten. Die EU-Verordnung zur Renaturierung wurde kürzlich auf den Weg gebracht: bis 2030 müssen demnach die Mitgliedstaaten Maßnahmen in Gang bringen, die dazu führen, dass 30 % der Ökosysteme wieder in einen guten Zustand versetzt werden. Bis 2040 lautet das Ziel 60 %, bis 2050 müssen dann 90 % erreicht sein (siehe FAZ vom 22.06.2024, Seite 13).
Natürlich findet auch dieses Gesetz bei vielen Stakeholdern, insbesondere in der Land- und Forstwirtschaft, nicht nur Freunde.
Da ist die bereits 2019 verabschiedete EU-Richtlinie zur Verringerung der Auswirkung bestimmter Kunststoffprodukte auf die Umwelt nur ein kleiner Tropfen. Wir alle wundern uns, warum die Plastikdeckel (Tethered Caps) nicht mehr von der Flasche gehen. Zum 01.07.2024 sind die Vorschriften zum „aufgehängten oder angehängten Deckel“ in Kraft getreten. Das mag man begrüßen oder nicht, jedenfalls zeigt dieses Beispiel – ähnlich wie die Krümmung der Salatgurke – womit sich in Brüssel Heerscharen von Beamten beschäftigten.
Koblenz, 09.07.2024
Professor Dr. W. Edelfried Schneider
Wirtschaftsprüfer
Past President Accountancy Europe